Friday 21 March 2008

Soziologische Feldstudien - Kailahun 2

Ich bin vollständig platt. Nachdem der zweite Tag in Kailahun einigermaßen ohne erwähnenswerte Zwischenfälle verlaufen und auch der Workshop soweit halbwegs gut verlaufen ist, hat es der dritte Tag (Donnerstag) echt in sich.

Zunächst einmal kann ich am Mittwoch Abend kaum einschlafen. Der Generator brummt zu laut. Dann geht er aus, der Ventilator damit aber auch. Zu heiß. Mist. Ich wälze mich in den Schlaf. Um fünf Uhr morgens weckt mich die örtliche Moschee mit ihren Gebets-Aufrufen. Ich fühle mich ein bisschen wie in „Nicht ohne meine Tochter“ und stelle mir vor, ich wäre in Teheran. Diese Aufrufe klingen irgendwie unheimlich fanatisch, eindringlich. Ich wälze mich noch zwei Stunden und brauche dann einen starken sierra-leonischen Kaffee, um aufzuwachen. Einen Kaffeefilter haben wir nicht, ich setze mich also und warte geduldig bis der Kaffee mir selbiges nachtut.

Nach ein bisschen Müsli mit super-sterilisierter H-Milch (die übrigens auch die Katze trinkt), laufe ich mit Flipflops quer durch Kailahun Richtung Büro der 50/50-Group, zum zweiten Teil des Workshops. Gestern ging es hier schon heiß her. Es ist spannend zu sehen, welches Selbstbild die Frauen hier von sich und ihren Männern haben. Zumindest jene, die es bis hierhin geschafft haben. Mich beschleicht das Gefühl, dass die Arbeit hier zunächst einmal zur starken Polarisierung beiträgt. Der Name lautet zwar 50/50, also Hälfte für beide. Der Verein erinnert mich zunächst allerdings eher an den „deutsch-türkischen Begegnungsverein“ nähe meiner Ex-Wohnung in St. Pauli, in dem ich noch nie auch nur einen einzigen Deutschen gesehen habe.

Dafür gibt es hier allerdings einen nachvollziehbaren Grund: Die Frauen sind hier derart unterdrückt, dass sie erstmal über’s Ziel hinaus schießen müssen, um überhaupt auch nur annähernd ihre Ziele zu erreichen. Draußen wie drinnen kleben jede Menge Aufkleber. Aufschrift: „A Woman belongs as much in the government as in the kitchen.“ Der daneben gefällt mir noch besser: „A Man of Quality should not be afraid of Women in Search of Equality.“ Find ich gut. Witzige Randbemerkung: Während ich das hier gerade schreibe, springt mein Ipod aufs nächste Lied um. Es spielt: „No Woman, No Cry“. Na, wenn das kein Zufall ist…

Im Workshop besprechen wir heute das Thema Kampagnengestaltung. Es geht heiter zu, denn die Moderatorin „Auntie Aisha“ und meine Kollegin Florie unterbrechen das Programm immer wieder mit kleinen Übungen als „Wachmacher“. Z.B. sollen die Teilnehmerinnen ihren Namen mit einem ihrer Körperteile in die Luft schreiben. Mal mit dem Ellenbogen, mal mit dem Kopf oder auch dem Knie. Ich sitze vergnügt in meiner Ecke und filme.

Die Damen hier sind wirklich stark, auch körperlich. Sie repräsentieren alle für mich irgendwie die Vorzeige-Mamas des deutschen Afrika-Klischees: Groß, stark, gut gebaut und eine Stimme wie ein Marktschreier auf dem Hamburger Fischmarkt. Wow. Bin ich froh, dass ich hier geduldet werde. Gestern noch saß ich draußen im Auto der 50/50 Group und wurde von Frauen auf der Straße beschimpft, was ich im Auto einer Frauenbewegung zu suchen hätte, als weißer Mann. Naja, gut, ähm, nüx. Sorry.

Nach dem Frühstück (gebackene Bananen mit Cola) verlasse ich den Workshop heute allerdings frühzeitig. Da ich an dem Manual mitgearbeitet habe, kenne ich das Programm schon und möchte die Zeit lieber nutzen, um Kailahun zu erkunden… und das wird sich lohnen, wie ich bald rausfinde.

Zunächst einmal laufe ich heim, quer durch den kleinen Ort. Mir fällt schnell auf, dass die Menschen hier deutlich offener sind als in Freetown. Vermutlich liegt das daran, dass die Kontraste etwas geringer und die Arbeit der NGOs etwas deutlich wahrnehmbarer ist. Das Büro von Oxfam ist z.B. nicht in einer Villa im Kolonialstil, sondern in einem stinknormalen Flachbau – und unweit vom Büro kann man auch schon einen der von Oxfam gebauten Wasserpumpen bewundern. Ursache und Wirkung sind hier also besser zu erkennen, die Dankbarkeit uns gegenüber zeigt sich dementsprechend deutlicher. So jedenfalls wirkt es auf den ersten Blick.

Nachdem ich mich zu Hause kurz umgezogen habe, mache ich mich auch gleich wieder auf den Weg, um erneut im „Peace-Garden“ zu speisen. Ich habe zwar mehr Appetit auf ein trockenes Instant-Müsli, aber ich bin ja nicht hier, um mich den ganzen Tag im Guesthouse aufzuhalten. Heute gibt es Reis und Bohnen. Dazu ein Malzbier. Ich kann live beobachten, wie draußen das nächste Hühnchen bei lebendigem Leibe zerhackt wird – für die quickfidelen Gäste im Garten des Friedens. Na dann, guten Appetit.

Ich will zahlen. 5500 macht das. Ich habe natürlich keine 500 Leones bei mir. Also kaufe ich einfach noch ein Malzbier, sozusagen „to go“, um eine runde Summe zu haben. Das behalte ich allerdings nicht lange bei mir, denn wenig später sehe ich eine Gruppe Kinder in einem halbfertigen Gebäude Fußball spielen.

Ich sehe eine Weile zu und setze dann an, um ein Foto zu schießen. Im Gegensatz zu Freetown sind in Kailahun alle ganz wild darauf, auf einem meiner Fotos zu landen, gleich ob jung oder alt. Alle rufen „Pumoi“ nach mir. Ich verstehe die ganze Zeit „Palmoil“ und fasse das einfach mal als Kompliment auf, denn ohne Palmoil geht hier schließlich gar nix. Später finde ich heraus: Es klingt zwar netter als „White Boy“, hat aber dieselbe Bedeutung, nur eben in Mende, einer der Stammessprachen hier. Ich mache also ein paar Fotos, jeder posiert so gut er kann. Eigentlich wollte ich ja das Spiel fotografieren bzw. filmen, doch daraus wird nichts…

Einer der Jungs fragt mich sofort mit großen Augen, was ich mit der Dose Malzbier vorhabe. Mein naives Herz wird schnell schwach und spontan drücke ich ihm die Dose in die Hand. Anfängerfehler. Soziologische Feldstudie Nr. 1 beginnt. Die zwei Jungs, die die Dose zuerst gesehen haben, beanspruchen diese für sich. Es dauert nicht lange und schon wollen auch alle anderen etwas abhaben. Das Geprügel kann losgehen. Es sieht aus wie drei hungrige Löwen in der Wüstensteppe, die sich um ein mageres Stück Zebra reißen.

Mir steigen Tränen in die Augen, als ich realisiere, wie durstig die Kinder sein müssen. Und selbst, wenn es kein Durst sein mag, so sind sie doch alle ganz verrückt nach etwas „Softdrink“, etwas Abwechslung. Saft kann man hier gar nicht kriegen. Cola, Fanta, Sprite und „Maltina“, das ist hier Flüssiggold – und repräsentiert gleichzeitig ein wenig den vermeintlichen Fortschritts-Import aus dem Westen, ganz ähnlich wie die vielen zerrissenen Ballack und Beckham-Trikots, die ich hier sehe.

Eine Kunstakademie in Deutschland präsentierte neulich auf Spiegel Online ihre Idee zur besseren HIV-Eindämmung in Afrika: Kondome im Deckel von Cola-Dosen. Kondom-Automaten oder anderweitige Verbreitung sieht man in der Tat sehr selten, Cola hingegen gibt es im hinterletzten Zipfel dieses Landes, das den vorletzten Platz auf dem Human-Development-Index einnimmt.

Aber zurück zum Kampf der Jungs: Ich gehe schließlich dazwischen und rufe „no fight, share!“. Damit gewinne ich wenigstens etwas Zeit. Zeit, mir zu überlegen, wie ich das Problem lösen kann. Die ideale Lösung gibt es nicht. Entweder hätte ich jedem eine Dose kaufen sollen oder sie lieber behalten sollen. Jetzt komme ich nicht mehr raus aus dem Dilemma. Ich frage, wer der Älteste ist, denn ich möchte die Verwaltung der Dose am ehesten dem Ältesten überlassen.

Dass es gerecht zugehen würde, ist ohnehin illusorisch, denn es sind knapp 20 Kinder, die sich um 0,3 Liter süßes Gesöff streiten. Meine Frage nach dem Alter ist also auch wenig hilfreich. Der Erste gibt sich für 21 aus, der zweite behauptet, dass der erste lügt und er selbst 24 sei. Keiner ist hier älter als 16, das sehe ich sofort. Aber versuchen kann man es ja mal.

Ich lache laut zurück und alle lachen mit mir, schließlich will es sich keiner verderben. Ich frage jeden einzelnen indirekt, wer von den anderen der älteste ist. Der mit den meisten Stimmen bekommt letztlich die Dose. Dennoch funktioniert die Verteilung nur mäßig. Jeder soll einen Schluck bekommen. Manche stellen sich zweimal an, die Kleinsten kommen natürlich am schlechtesten weg. Dennoch bedanken sich alle artig. Fair ist es nicht. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie es in einem Flüchtlingslager zugehen muss, wenn das World-Food-Programme Reissäcke verteilt.

Noch vor wenigen Momenten haben alle in einem Team Fußball gespielt. Aber in Situationen wie diesen ist sich jeder selbst der nächste. Letztlich wird dann aber doch weitergespielt. Ich drehe meine 3 Sekunden Filmchen bis ich wiederum unterbrochen werde. Seit der Malzbieraktion bin ich hier offenbar zum Boss gekürt worden. Der Ball ist über die Grenze hinaus geschossen und in den Verkaufsstand eines Händlers gerauscht. Es rasselt und die zum Verkauf stehenden Töpfe landen im Dreck. Jetzt will der Händler den Ball nicht wieder rausrücken. Ob ich mich da wirklich einmischen sollte?...

Ich riskiere es mal und spreche mit dem Händler. Ich versuche, mein bestes Krio hervor zu graben. „Give de children one more chance“. Der Händler ist sauer. Er scheint mich zwar einerseits zu respektieren, andererseits möchte ich diesen Respekt nicht missbrauchen. Manchmal sollte man lieber die Fresse halten, wenn man keine Ahnung hat. Kommt zwar von Dieter Nuhr, stimmt aber auch hier.

Nun ist es aber zu spät. Also schimpfe ich auch demonstrativ mi den Kindern. „Yu for be careful! No for play naja, play some place else, not so clos to de shop!“ Der Händler gibt sich zufrieden und mir den Ball. Den Kindern erkläre ich, dass sie einen Teil der Mannschaft zu Ball-Aufpassern ernennen müssen, die verhindern, dass der Ball in den kleinen Laden fliegt. Das Spielfeld wird umverlegt, bald rollt der Ball wieder. Konfliktresolution für Anfänger.

Allerdings ist es vermutlich ähnlich wie bei UN-Friedenseinsätzen: Sobald die Truppen abziehen, geht das Gerangel wieder los. Für nachhaltige Friedensschaffung müssten die Kids verstehen, was sie tun. Leider habe ich für nachhaltiges Peace-Building heute keine Zeit, denn schon kommt der nächste aufregende Fall….

… „Hey yu!“, ruft es von der Seite. Ich drehe mich um und erkenne Edward, den Batik-Verkäufer. Edward hatte uns schon die beiden letzten Tage auf der Straße belagert, denn die weißen NGO-Mitarbeiter sind nunmal leider so ziemlich seine einzige Kundschaft. Niemand sonst hier würde sich für ein paar 10-Tausend Leones einen stumpfen Wandbehang leisten, der ja doch nur das zeigt, was man selbst jeden Tag auf der Straße erleben kann. Also bleibt Edward sehr penetrant und ermahnt Florie und mich jedes Mal, wir sollten uns die Batiken doch wenigstens einmal ansehen, es gäbe ja kein „Force to buy“. Dieses Mal bin ich alleiniges Opfer, denn Florie ist ja noch im Workshop.

Also, denke ich mir, warum eigentlich nicht. Ich bin ja raus, um was zu erleben, also lasse ich mich doch einfach mal darauf ein und höre ihm ein Weilchen zu. „Yu know“, sage ich, „to be quite frank: I don‘t know wheda she really wants de Batik”. Seine Augen werden im Nu traurig. Er ist sichtlich enttäuscht, schließlich hatte Florie schon zugesagt, ihn heute abend anzurufen. „Hey hey, don‘t worry ma padi, I am gonna look at dem.”, erlöse ich ihn. Also, wohin gehts? Na klar, zu ihm ins Häuschen, in den Showroom sozusagen.

Stolz präsentiert mir Edward seine vier Wandbehängungen, sein ganzes Sortiment. Er macht sie nicht selbst, er praktiziert hier echtes Business, wie er es nennt. Buying und Selling eben. Die kleinen mit den wenigen Farben kosten 50.000, die großen 75.000. Das ist ein stolzer Preis, denke ich. Aber er hat ja auch einiges vor. Edward beginnt, mir zu erzählen….zu Beginn des Krieges ging es nach Guinea als Flüchtling, mit seiner Frau und seinen vier Kindern. Dort hat er dann 12 Jahre lang gelebt, bevor er über Freetown nach Kailahun zurückgekommen ist.

10 Häuser hatte sein Vater hier besessen, der hier als Paramount Chief einiges zu sagen hatte. Aber da der Kapitän des Dorfes das sinkende Boot eben nicht verlassen wollte, gibt es seinen Papa leider nicht mehr. Alle 10 Häuser sind fast bist auf die Grundmauern niedergebrannt und zerstört worden.

Nun will Edward aus eigener Kraft alles wieder aufbauen, Stück für Stück die Dächer rekonstruieren und einzelne Räume vermieten. Bislang hängen da nur UNICEF und UNHCR Planen. Bald kommt die Regensaison und dann fallen alle seine Planen und Pläne wortwörtlich ins Wasser. Er braucht also Wellblech. Finanziert mit Verkäufen aus ein paar Batiken…

Kann man da nein sagen? Ich habe tatsächlich nicht genug Geld dabei, also will mir Edward sogar meine Lieblings-Batik erstmal ohne Geld überlassen. „I trust yu. Yu kam back tonight to bring de moni, ok?“. Ich bin ehrlich gerührt und weiß nicht mehr, was ich sagen soll. Ich schäme mich, dass ich auch nur eine Sekunde zögere, 10 Euro auszugeben für eine so schöne Erinnerung an meine Zeit in Sierra Leone und Edward, den Sohn des Paramount Chiefs aus Kailahun.

Am Abend dann komme ich tatsächlich zurück und bringe Florie gleich mit. Endergebnis: Wir beide finden jeweils ein Motiv, das uns gefällt und bekommen sogar noch Mengenrabatt. Mit Taschenlampe und Kerzenlicht versuchen wir, die Farben zu erkennen. Letztlich geht es ja auch gar nicht so sehr ums Bild selbst, sondern darum, Edward zu helfen. Als wir dann zahlen strahlt er vor Glück. Sein Tag ist gerettet. Und da Florie meine Batik auch so gut gefällt, bestellt sie sogar nochmal das gleiche Motiv für April, wenn sie das nächste Mal in Kailahun ist.

Einen Monat Vorfreude, für 3 Euro Gewinn – und vielleicht, irgendwann, ein Wellblech über dem Kopf.

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